Leseprobe:

...
Eine neue Generation von Historikern stellt den klassischen Feudalismus-Begriff in Frage. Ein vorurteilsloses Quellenstudium macht deutlich, daß das Konzept des Lehnswesen eine juristische Fiktion des Spätmittelalters sein muß. Der Ritterstand trennte sich ja wie gesagt in weiten Teilen Mitteleuropas nachweislich erst im 12. und 13. Jahrhundert vom Bauernstand. Der erste wurde ab 1180 erblich, während man den Bauern das Tragen von Waffen verbot.

Besonders gut untersucht ist Frankreich, das einen älteren Feudalismus vorweisen kann. Nach den Vorarbeiten von Marc Bloch und Georges Duby, die die frühmittelalterlichen französischen Quellen untersucht haben, und vor allem nach der Arbeit von Pierre Bonnassie (La Catalogue du milieu du Xe á la fin du XIe siécle. Toulouse, 1975-6) über die Spanischen Marken kann man heute, in Anlehnung an Bonnassie, von einer „feudalen Revolution“ im 11. Jahrhundert reden, die T.N. Bisson wie folgt charakterisiert: „collapse of public justice, new regimes of arbitrary lordship over recently subjected and often intimidated peasants, the muliplication of knights and castles and ideological repercussion.“ (7)

Diese feudale Revolution des 11. Jahrhunderts, die heute von den modernen Historikern konstatiert wird, ist vor allem eine Umwälzung der Eigentumsverhältnisse. Das steht im Widerspruch zum alten Modell, das davon ausgeht, daß der fränkische König die Eigentumsrechte an den Ländereien seit dem Frühmittelalter angeblich generös unter seine Rittern verteilt habe. „Schon in der Völkerwanderungszeit beschenkte der König seine Gefolgsleute mit Land, das er nach dem Recht des Eroberers erwirbt.“ (Bosl, 35) Tatsächlich haben sich die mächtigeren Ritter diese Eigentumsrechte jedoch offensichtlich erst jetzt im 11. Jahrhundert und mit Gewalt angeeignet. Und zwar auf Kosten der einfachen Bauern und der christlichen Kommunen. Von einem gütigen König ist in den Quellen jedenfalls nicht die Rede.

Bisson hält es nach seinen Quellenstudien für erwiesen, daß es im 10. und 11. Jahrhundert einen deutlichen Bruch der Kontinuität gibt. Die zeitgenössischen Quellen sprechen wiederholt vom plötzlichen „Auftreten von neuen Tyrannen, die die alten Rechte und Gesetze verletzen“. Leider wissen wir nicht genau, welches das alte Recht und Gesetz war, aber K.F. Werner geht davon aus, daß ein altes romanisches Recht in Frankreich bis ins 12. Jahrhundert existiert haben muß. (K.F. Werner, Königtum und Fürstentum im französischen 12. Jahrhundert, in: Probleme des 12. Jahrhunderts. Stuttgart 1968, S. 177-225, trans. Timothy Reuter. The Medieval Nobility, Amsterdam 1978)

Im 10. Jahrhundert beginnt dieses romanische Recht durch die Gewalt (violence) Einzelner in Frage gestellt zu werden. Bisson bezeichnet diese Gewalt als normalen Bestandteil des Fehderechts. („Violence was likewise normal in the feud, a system of customary vengeance rooted in kin right.“) (13) Die befestigte Burg und bewaffnete Reiter wurden dabei zum wichtigsten Werkzeug bei der (feudalisierenden) Unterdrückung der Bauern. Manchmal wird schon beim Bau der befestigen Burg verraten, wozu sie dienen soll. Graf Raymond III. (961-1010), der gegen den Willen der Mönche seine Burg befestigt, sagte, er wolle die Freien mit Gewalt seinem Willen unterwerfen. („to subjugate by his violence (violentia) and submit to his lordship those who neglected to render their due submission to him“) ( Liber miraculorum sancte Fidis, z.n. Jean Dunbabin, France in the Making, 843-1180 Oxford, 1985, S.143-50). Der Begriff „Dominus“ war ursprünglich nur für Gott, den Bischof und den König reserviert, aber seit dem 11. Jahrhundert wurde er auch für den Burgherren verwendet.

Unsere Quellen sind ausschließlich christliche Quellen, wie z.B. die Lebensgeschichte des Bischoffs Sigehardus. Dort wird beschrieben, wie reiche und mächtige Männer die Felder von Ärmeren usurpieren und diese dann zwingen, sie zu kultivieren. (Sigehardus, Miracula Maximi episcopi Treverensis, ed. Johannes Bollandus et al., Antwerpen, 1643; z.n. T. N. Bisson, The Feudal Revolution, in: Past and Present, No. 142, Febr. 1994) Die Großen unterdrücken die Kleinen, das sei heute die übliche, schlechte Praxis geworden, schrieben auch die Mönche des Klosters von Mouzon. Die Mönche müssen dem ziemlich hilflos zugesehen haben und die Idee der „militia Christi“, des bewaffneten Christentums, scheint zu dem Zeitpunkt noch nicht entwickelt worden zu sein.

Aus diesen gewaltätigen Anfängen des 11. Jahrhunderts scheint sich dann im 13. Jahrhundert langsam eine Klasse mit gemeinsamen Interessen gebildet zu haben. Im Jahre 1202 fordern die Barone von Katalonien vom König ausdrücklich das Recht ein, ihre Bauern auch weiterhin mißhandeln (male tractaverint) und ihnen Dinge wegnehmen zu dürfen. (33)

Aber nicht nur die Bauern sind Opfer der Barone, auch die Ländereien der Kirche werden seit dem Ende des 11. Jahrhunderts und vor allem im 12. Jahrhundert beraubt, wie Bission zumindest für England feststellt. Der Vorgang dürfte sich so ähnlich auch auf dem europäischen Festland abgespielt haben, so daß man für das Frühmittelalter sicher von einem Interessengegensatz zwischen christlichen Kommunen und dem sich konstituierenden Adel sprechen kann.

In diesem Zusammenhang ist auch der Brief von Papst Gregor VII. zu sehen: Der schrieb 1081 an den Bischof Hermann von Metz. „Who does not know, that kings and princes derive their origin from men ignorant of God who raised themselves above their fellows by pride, plunder, treachery, murder?“ (z.n. T.N. Bisson, The Feudal Revolution, S. 42)

Susan Reynolds hat nachgewiesen, daß in Deutschland die Idee des Feudalismus frühstens im 12. Jahrhundert nachweisbar ist, daß aber noch der Sachsenspiegel im 13. Jahrhundert mit dem Begriff des „beneficium“ arbeitet und das Lehnswesen gar nicht kennt. Aus ihrer Quellenanalyse geht, etwas verkürzt formuliert, hervor, daß erst mit dem Auftreten akademisch geschulter Juristen seit dem 14. Jahrhundert das Konzept des feudalistischen Lehnswesens sich hat bilden können. In Deutschland ist dieser Vorgang jedoch noch jünger. Hier gibt es erst seit dem späten 14. Jahrhundert Universitäten und erst seit dem 15. Jahrhundert Juristen, die im römischen Recht ausgebildet sind. (Reynolds, 472) Reynolds kritisiert, daß die Historiker viele Vermutungen (assumptions) der Gelehrten des 17. und 18. Jahrhundert unkritisch übernommen haben und dann, ebenso wie diese, selbst auch dem Mittelalter die Fiktion eines Feudalrechtes verpaßt haben, das sie auch noch weiter ausschmückten. (473)

Sieht man sich nach diesen akademisch höflichen aber doch kritischen Worten die Texte der konventionellen Historiker noch einmal an, wirken sie tatsächlich wie historisch-politische Fiktionen mit erkennbarer Nähe zur Geschichtsklitterung. Etwa das Buch von Karl Bosl „Staat, Gesellschaft, Wirtschaft im deutschen Mittelalter“. (Stuttgart 1970) „Hauptträger staatlicher Funktion .. waren der Adel und seine Gefolgschaft.“ „Wir erkennen heute die besonderen Verdienste des Adels um Rodung, Landausbau und staatlichen Aufbau.“ (32) „Die Germanen, die sich in römischen oder romanisierten Gebieten niederließen, gründeten erobernd Grundherrschaften.“ (30) Fast schon zynisch angesichts der tatsächlichen Unterdrückung und Gewalt, die in den Quellen deutlich wird, ist aber die Formulierung, die wir oben schon zitierten: „Schon in der Völkerwanderungszeit beschenkte der König seine Gefolgsleute mit Land, das er nach dem Recht des Eroberers erwirbt.“ (Bosl, 35) Denn erstens fand dieser Prozeß offensichtlich nicht in der Völkerwanderungszeit statt, sondern frühestens im Hochmittelalter und zweitens mußte sich der Adel dieses Eigentum (zumindest in Frankreich und England) selbst erkämpfen.

In Deutschland gibt es zwei Lehrmeinungen zur Entstehung des Feudalismus.
Die ältere, die auf A. Dopsch zurückgeht, meint (indem sie sich auf Tacitus stützt) daß es einen alten germanischen Uradel gegeben habe. Die neuere (H. Brunner und H. Mottek) sagt, daß es erst unter den fränkischen Karolingern zur Herausbildung des Feudalismus gekommen sei. Beide Modelle sind hypothetisch und mit Quellen nicht zu belegen. Um unnötigen Streit zu vermeiden, gehen viele Historiker gern davon aus, daß beide Positionen recht haben, insofern als der alte germanische Uradel in der karolingischen Zeit mit dem zu dieser Zeit neu entstehenden Dienstadel verschmolzen sei. Wobei natürlich nicht befriedigend erklärt wird, warum Karl der Große nicht ausschließlich auf den verdienstvollen, alten Uradel vertraute.

Die meisten Forscher gehen davon aus, daß die karolingische Zeit auf jeden Fall eine eigentumsrechtliche Zäsur bedeutete. Die Karolinger hätten demnach die alten Stammesherzöge enteignet und sie durch ihre eigenen Grafen und Vögte ersetzt:
Natürlich ist es erstaunlich, daß sich der alte germanische Uradel so leicht von einem neuen Dienstadel entmachten ließ. Man muß dabei bedenken, daß es ja der alte germanische Uradel gewesen sein muß, der das römische Reich zum Einsturz gebracht hatte und auch die Araber nur wenige Jahre vorher (sogar ohne Pferde) erfolgreich zurückgeschlagen hatte. Und dann gelingt es Karl dem Großen diesen alten Uradel durch einen neuen Dienstadel zu entmachten, ohne daß wir von irgendwelchen Problemen hören. Ein faszinierendes historisches Phänomen, daß in der Forschung bislang noch überhaupt nicht problematisiert worden ist.

Das wichtigste Amt der frühmittelalterlichen Wirtschaft und Verwaltung ist die Position des Grafen gewesen. Der Graf war ursprünglich nichts anderes als ein normaler Verwalter, ohne eigene Eigentumsansprüche. Grafen und Vögte vertraten zuerst also nur die Interessen des eigentlichen Eigentümers. Und der eigentliche Eigentümer war zumeist ein Kloster oder der (vermutlich fiktive) großzügige König, (aber offensichtlich kein Fürst).

„Indem die karolingische Politik das Amt eines Grafen zu einem der wichtigsten Posten in der inneren Verwaltung ausbaute, förderte und belebte sie auch den Verkehr, denn die Grafen hatten für Herstellung und Erhalt aller öffentlichen Straßen, Dämme, Brücken .. zu sorgen. Auch mußten sie sich um die Sicherheit der Straßen und Handelswege kummern und die Märkte beaufsichtigen. Der den Kaufleuten im 9. und 10. Jahrhundert vom Kaiser so gern gewährte besondere Schutz, das Recht der Freizügigkeit und Handelsfreiheit, konnte nur wirksam werden, wenn die Grafen ihre Pflicht erfüllten und für die Sicherheit von Person und Eigentum der Kaufleute .. sorgten. Somit waren die Grafen auch Träger wichtiger wirtschaftlicher Funktionen. (Stro-meyer, 157)

Dieses Amt war also sehr einflußreich. Und offensichtlich bot dieses Amt die entscheidende Gelegenheit dafür, sich auch persönlich zu bereichern und wirtschaftlich und militärisch mächtig zu werden. Jedenfalls haben sich die Grafen bald verselbständigt und an Macht gewonnen: „Die ganz allgemein gewordenen Eigenmächtigkeiten der Amtsgewalt-igen brachten die kleinen Freien sehr bald zu der Erkenntnis, daß es, um vor Bedrückung und Willkür sicher zu sein, nur den einen Weg gab, sich freiwillig unter den Schutz des Grafen .. oder seines Vogtes zu stellen und diesem das Besitztum zu übertragen. Man wählte also, da ein Kampf gegen die wirtschaftlich und politisch überlegenen Grundherrn und Amtsträger unausbleiblich die Verarmung zur Folge gehabt hätte, lieber das kleinere Übel der Minderung der nominellen persönlichen Freiheit.“ (156)

Warum aber hat der König dies zugelassen? Einerseits attestieren die Historiker den Karolingern, daß sie mit diesen Grafen und Vögten ein herrvorragendes Verwaltungssystem aufgebaut haben sollen. Andererseits wundern sie sich nicht, daß diese Beamten (auf Kosten des Königs?) immer mächtiger werden.

Die Situation wäre demnach also exakt entgegengesetzt zu der des Absolutismus gewesen, als der König auf Kosten des Adels mächtiger wurde. Interessant ist aber vor allem, daß in diesem Weltbild der König am Anfang der gesellschaftlichen Entwicklung steht. Der offensichtlich schon immer existiert habende König ernennt Verwalter, die sich dann auf seine Kosten verselbstständigen und teilweise zu Fürsten aufsteigen.

Unseres Erachtens ist die Darstellung der Historiker falsch. Der Dienstadel der Grafen und Vögte wird sich nicht auf Kosten des Königs bereichert haben, (den es vermutlich noch gar nicht gab) sondern auf Kosten der Klöster. Die kommunitaristischen, christlichen Klöster waren ja in Deutschland im Frühmittelalter der wesentliche wirtschaftliche Motor gewesen, (während man vom König als Wirtschaftsfaktor nichts hört, außer daß er Land und Güter verschenkt haben soll).
Die Quellenlage zur Eigentumsproblematik des frühen Mittelalters ist mehr als schlecht, sie ist katastrophal.

Betrachten wir die Fakten der genealogische Forschung, so werden wir überrascht feststellen, daß es etwas gibt, was man die vollkommene genealogische Zäsur nennen könnte, die in gewisser Weise dem Eigentumstransfer entspricht, den wir im Mittelalter vermuten. Die längsten Stammbäume in Deutschland hat selbstverständlich der deutsche Hochadel. Aber dieser Hochadel reicht auch nur etwa bis zum Jahr 1000 zurück, wobei die Angaben vor 1150 zumeist hochspekulativ und umstritten sind. Sicher ist aber, daß sich der deutsche Hochadel etwa um 1200 völlig neu konstituiert hat, und daß es in Deutschland niemand gibt, der mit Karl dem Großen, Otto dem Großen, Heinrich dem IV, ja nicht einmal mit Friedrich Barbarossa verwandt zu sein glaubt. Friedrich Barbarossa der soviele Freibriefe ausgestellt hat, scheint überhaupt keine Verwandten und Nachkommen gehabt zu haben. Die Salier, die Hohenstaufen, die Karolinger und die Ottonen, denen das Deutsche Reich doch soviele Reformen verdankt, scheinen alle keine Nachkommen gezeugt zu haben. Oder aber man hat deren Familien vollständig ausgerottet. All diese Adelsgeschlechter verschwinden vollständig aus der Geschichte, um im 12. Jahrhundert den um Sachsen und Bayern kämpfenden Welfen, Habsburgern, Hohenzollern, sächsischen Wettinern, Wittelsbachern, Anhaltern, Badenern und Reussen Platz zu machen. (Übrigens ist auch in Frankreich niemand mit Karl dem Großen verwandt.)

Angesichts dieser Tatsachen und des Mangels an Quellen erscheint es uns grob irreführend, wie allwissend die Historiker über den Adel der Karolingerzeit berichten: „Schon in der Karolingerzeit hatte sich der alte Geschlechtsadel mit dem Dienstadel völlig verschmolzen. Aus den hohen Beamtenfamilien der fränkischen Zeit, die mit dem Geschlechtsadel eins geworden waren, hatten sich als oberster Stand die Fürsten gebildet. Sie waren die Inhaber der höchsten Ämter .. Herzöge, Markgrafen und Grafen. Durch die Vererbung der .. Ämter kam es zur Bildung der als ‚hoher Adel‘ auftretenden fürstlichen Familien, der Dynastien.“ (M. Stromeyer, 157)
Richtig dürfte sein, daß der Adel durch die Privatisierung und Vererbung von Ämtern entstanden ist; falsch, daß dieser Prozeß schon im 9. Jahrhundert vollzogen wurde.
Halten wir fest, daß die Genealogie keinerlei Bestätigung für die Existenz eines deutschen Adels vor den Welfen ergeben hat. Insofern ist die Frage müßig, ob es in der Karolingerzeit eine Verschmelzung des alten Geschlechtsadels mit dem neuen Dienstadel gegeben hat. Genealogisch ist überhaupt kein Adel vor dem 12. Jahrhundert nachweisbar.